Im folgenden Artikel gibt Osman Tseng(曾慶祥), Vizepräsident des Wirtschaftlichen Nachrichtendienstes der Republik China und einer der zumeist respektierten Kolumnisten Taiwans, einen Überblick über die Auswirkungen der wirtschaftlichen Veränderungen auf das Fundament der chinesischen Gesellschaft - die Großfamilie. Er deutet an, daß die neuen Trends, die anhand von Struktur und Aktivitäten der örtlichen Familien sichtbar werden, die enge Verknüpfung von wirtschaftlicher Modernisierung und sozialem Wandel demonstrieren und die Notwendigkeit einer neuen Wertschätzung der alten traditionellen Ethik, im Licht der gegenwärtigen Realitäten, aufzeigt.
Vor einigen Jahrzehnten, Taiwan hatte noch den Status eines Agrarlandes, waren auf der ganzen Insel Familien, in denen drei oder vier Generationen unter einem Dach lebten an der Tagesordnung und ein auffälliges Merkmal der traditionellen chinesischen Gesellschaft. Doch ist die Zahl solcher Großfamilien in den letzten Jahren beträchtlich gesunken, da mehr und mehr junge Leute zu Hause ausziehen, um sich in den industrialisierten Zonen und Städten einen Job zu suchen und bevorzugen, näher an ihrem Arbeitsplatz zu wohnen. Diese Wanderbewegungen führten zur Bildung von Kleinfamilien, die nur aus Eltern und Kindern bestehen. Diese Veränderungen der Familienstruktur zeichnen sich bei Taiwans Streben nach fortgesetzter Industrialisierung als wachsender Trend ab.
Zwei von der Regierung erhobene Statistiken mit Informationsdaten erhärten die Bestimmtheit dieses Trends. Ein von Taiwans Institut für Familienplanung im Jahre 1980 ausgestelltes Gutachten zeigt, daß die Eltern in 19,7 Prozent der Familien aller interviewten Personen von den verheirateten Kindern getrennt lebten. Ein ähnliches Gutachten aus dem Jahr 1986 enthüllt, daß die Zahl auf 27,1 Prozent angewachsen war. Nach den kürzlich vom Innenministerium veröffentlichten Statistiken ist die durchschnittliche Familiengröße in Taiwan von 5 Personen pro Familie im Jahre 1978 auf 4,2 Personen im Jahre 1988 gefallen, was größtenteils auf die wachsende Anzahl von Kleinfamilien zurückzuführen ist.
Selbst wenn der Auszug der jungen Leute aus dem Haus der Familie und der Einzug in oft weit entfernte eigene Appartements eine unvermeidliche Entwicklung in einer industrialisierten Gesellschaft ist, so bringt dies doch für das Taiwan der Gegenwart eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich. Aufgrund von Erwartungshaltungen, welche sich in Übereinstimmung mit Chinas langer kultureller Tradition gebildet haben, ist es für Eltern in der Tat sehr schwer sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, ihre letzten Jahre möglicherweise allein zu verbringen.
Dies heißt natürlich nicht, daß es den betagten Eltern in Taiwan an Essen, Kleidung oder sonstigen materiellen Bedürfnissen fehlen würde, weil ihre verheirateten Kinder nach Umzug und Gründung eines eigenen Heims, sie nicht mit dem für das alltägliche Leben Benötigtem versorgten. Das ist kein Problem. Auf Taiwan, wie überall in China, haben die erwachsenen Kinder die kindliche und auch gesetzliche Verpflichtung für ihre Eltern zu sorgen. Trotz zahlreicher Veränderungen in den grundlegenden chinesischen Wertvorstellungen, als Ergebnis der schnellen Industrialisierung, wird dieser Verpflichtung noch streng Folge geleistet. Die Mehrheit der unabhängig arbeitenden Kinder entscheidet sich, die Lebenskosten der Eltern mittels regelmäßiger Geldsendungen zu decken.
Das Problem liegt bei den nichtmateriellen Bedürfnissen. Viele alte Eltern, chronisch erkrankt, invalide oder ganz einfach einsam, können von ihren weit vom Haus der Familie entfernt lebenden Kindern keine angemessene Pflege erhalten. In westlichen Ländern, mit gut entwickelter sozialer Unterstützung, kann die Situation der Eltern, die nicht länger mit ihren Kindern unter einem Dach leben, einfacher gelöst werden. Das soziale Umfeld in Taiwan änderte sich jedoch derart schnell, daß die Regierung weder die Zeit noch die Mittel besaß, drastische Versicherungsprogramme zu fördern - Programme, welche Alters- und Pflegeheime mit gut geschultem Personal beinhalten, die den alten Menschen helfen könnten ihre Einsamkeit zu lindern.
Für viele Eltern ist nicht einfach zu verstehen, daß sie heute ohne angemessene Pflege ihrer erwachsenen Kinder alt werden sollen. Dies besonders insofern, als daß sie sich noch lebhaft an eine gar nicht so weit zurückliegende Zeit erinnern können, wo sie ganz selbstverständlich den kindlichen Pflichten wie aufgetragen nachkamen. Beispielsweise hatten sie sich jeden Morgen nach der Gesundheit der Eltern zu erkundigen und einige waren sogar gezwungen, ihren Job aufzugeben, um bei den Eltern zu bleiben und persönlich für sie zu sorgen.
Für die alte Elterngeneration ist es ferner schwer vorstellbar, tatsächlich so viel an Einfluß auf die jüngeren Generationen eingebüßt zu haben. Traditionell waren sich die Eltern einer Familie des Respekts aller Familienmitglieder sicher und erfreuten sich einer nichtherausforderbaren Autorität. Sie hatten das letzte Wort bei der Berufswahl der Kinder oder bei der Auswahl der Heiratspartner. Doch bei einem Arbeitsmarkt mit zunehmendem Wettbewerb, muß sich die junge Generation eher nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes von morgen richten, als auf den Rat oder die Vorliebe der Eltern für eine bestimmte akademische Ausbildung hören.
Da zunehmend mehr junge Leute außer Haus wohnen und arbeiten, ergeben sich zahlreiche Gelegenheiten, mit dem anderen Geschlecht am Arbeitsplatz Kontakt auf zu nehmen, was dazu führte, daß die erwachsenen Kinder ihre Lebenspartner selbst auswählen und die traditionelle Rolle der Eltern bei der kritischen Wahl des Heiratskandidaten ausgeschaltet wird.
Nicht nur, daß sich Taiwans Industrialisierung weitreichend auf die Familienstruktur und auf die Versorgung der älteren Bevölkerung auswirkt, sie beeinflußt auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Nach den Statistiken des Innenministeriums hat sich die Scheidungsrate in Taiwan während der letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Die entscheidenden Gründe hierfür liegen in der verbesserten Erziehung und der Öffnung des Arbeitsmarktes für Frauen, sodaß diesen vermehrt die Möglichkeit geboten wird, einen Beruf auszuüben. Gegenwärtig arbeiten in Taiwan mehr als zwei Millionen Frauen außer Haus. Das heißt, daß heute 47 Prozent aller Frauen zwischen 15 und 64 auf den Arbeitsmarkt drängen, im Verhältnis zu 39 Prozent außer Haus arbeitenden Frauen vor zehn Jahren. Eine zunehmende Zahl dieser berufstätigen Frauen behält ihre Jobs auch nach der Heirat und der Geburt von Kindern bei.
Mehr und mehr Mütter sind nicht bereit, ihren Beruf aufzugeben, was gewaltige Auswirkungen auf die Familie hat und ihre eigene Rolle innerhalb der Familie nicht wenig beeinflußt. Früher war es in einer chinesischen Familie die erste Pflicht der Frau, ihrem Ehemann zur Seite zu stehen, indem sie sich um die Kinder und den Haushalt kümmerte. Aber es ist klar, daß heute viele berufstätige Frauen, besonders jene mit einer akademischen Ausbildung, ihre Karriere zumindest als gleichbedeutend, wenn nicht wichtiger als ihre häuslichen Pflichten einschätzen. Der Trend, daß laut Regierungsstatistiken zunehmend mehr Frauen eine Arbeit außer Haus annehmen, trägt zu einer steigenden Scheidungsrate bei. Wenn Frauen außer Haus einen Beruf ausüben, geht dies oft mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit einher, so daß sie nicht länger auf ihren Ehemann zur Deckung des Lebensunterhalts angewiesen sind. Mit anderen Worten brauchen sie sich nicht, wie es traditionell von ihnen erwartet wurde, länger dem Willen ihrer Ehemänner zu beugen. Aufgrund dieser wirtschaftlichen Veränderungen sind die Frauen heute eher geneigt, eine Scheidung als Ausweg zu wählen, wenn sie mit ihrer Ehe unzufrieden sind. Dieser Trend war in den letzten Jahren immer deutlicher wahrzunehmen.
So wie die Scheidungsrate in Taiwan steigt, so wächst auch die Zahl der Familien mit nur einem Elternteil. Genaue Statistiken über solche Familien sind nicht vorhanden, doch ihre stetige Zunahme hat das Interesse der Bevölkerung erweckt. Soziologen glauben, daß durch die Scheidungen, welche bei den Kindern in der Regel große Anpassungsschwierigkeiten hervorrufen, die Zahl der jugendlichen Delinquenten wächst. In den Augen der Polizei läßt sich die steigende Zahl der von Teenagern verübten Straftaten auf die zunehmende Zahl verhaltensgestörter Kinder aus nicht intakten Familien zurückführen. Weder die Soziologen noch die Polizei ist gegenwärtig in der Lage, genaue Daten zur Verfügung zu stellen, die aussagen, in welchem Ausmaß eine steigende Scheidungsrate Kinder und Gesellschaft beeinflußt. Aber es steht außer Frage, daß einer Familie durch eine Scheidung schwerwiegende Probleme bei der Erziehung der Kinder aufgeladen werden.
Nach der traditionellen chinesischen Philosophie ist die Familie die entscheidende soziale Einheit, in der das Kind für die späteren Aufgaben des Lebens, welche wären: die Familie in Ordnung bringen, den Staat regieren und letztendlich der Welt Frieden bringen, erzogen wird. Doch in Taiwan hat diese Funktion der Familie schon seit längerer Zeit an Bedeutung eingebüßt. Im fortschreitenden Modernisierungsprozeß des Landes haben viele Kinder immer weniger die Gelegenheit, zu Hause erzogen zu werden - dem Ort, der traditionell für die Entwicklung eines starken guten Charakters sorgte und der die richtigen Verhaltensregeln für die Gesellschaft lehrte. Stattdessen gehen sie in der Frühe zur Schule und kehren erst am späten Nachmittag, beladen mit einem Berg an Hausaufgaben, der sie am Abend und oft bis spät in die Nacht beschäftigt, nach Hause zurück, so daß ihnen kaum Zeit für eine Unterhaltung mit den Eltern oder anderen Familienmitgliedern bleibt.
Arbeitende Eltern, die oft auch am Abend durch gesellschaftliche Verpflichtungen gebunden sind, können ihre Kinder häufig nicht einmal sehen, geschweige denn mit ihnen kommunizieren.
Die Folge ist, daß im heutigen Taiwan den Schulen fast die ausschließliche Verantwortung für die Erziehung der Kinder obliegt. Aber es gibt zwingende Gründe, die dafür sprechen, daß man kaum davon ausgehen kann, daß die Schulen diese Verantwortung übernehmen können. Zum einen sind heute noch der überwiegende Teil der Kurse, welche die Schüler zu guten Bürgern erziehen sollen, auf die Wertvorstellungen einer agrarwirtschaftlichen und nicht einer industriellen Gesellschaft ausgerichtet. Zum anderen sind die Klassen in den öffentlichen Schulen mit ca. 60 Schülern so überfüllt, daß die Lehrer jedem einzelnen Schüler einfach nicht die angemessene Hilfe oder nötige Beachtung schenken können. Verständlicherweise sind die Schulen mit der Wissensvermittlung überbeschäftigt, so daß für die "Kultivierung" der einzelnen Charaktere kaum Zeit verbleibt.
Immer wieder wird in letzter Zeit kritisiert, daß für die meisten jungen Leute einzig ein akademischer Abschluß und ein der Ausbildung angemessener sehr gut bezahlter Arbeitsplatz zählt und nicht die Entwicklung des eigenen qualitativ überlegenen Charakters.
Ein Wandel in Familienstruktur und Funktion scheint jeder Nation, die nach Industrialisierung strebt, zu widerfahren. Die Frage ist nicht, wie diese Veränderungen vermieden werden können, sondern vielmehr wie die Bevölkerung und die sozialen Institutionen sich diesen am besten anpassen und so die nachteiligen Auswirkungen verringern können. Für die einheimische Bevölkerung ist diese Anpassung vielleicht besonders hart, da die Veränderungen auf Taiwan wesentlich drastischer als in vielen anderen Ländern vonstatten gehen. Dies gilt insbesondere, da Taiwans Industrialisierung nicht im Land selbst gewachsen, sondern zum großen Teil vom Ausland nach Taiwan verpflanzt worden ist. Dieser Import von know-how und Maschinerie in kürzester Zeit und großer Zahl, hat der Gesellschaft gedanklich wie auch institutionell nicht die Zeit gelassen, sich den Veränderungen anzupassen. Diese Schwierigkeiten könnte man mit der Lebensphilosophie der Landesbewohner in Verbindung bringen: Die Ideale einer Agrargesellschaft sind in Taiwan fester verwurzelt als in vielen anderen Ländern, die sich ebenfalls sozialen Veränderungen - wenn auch wesentlich langsamer - anpassen mußten.
Nach Meinung vieler Sozialwissenschaftler, müßte die Regierung zuallererst für eine Erweiterung des Wohlfahrtsprogramms für die älteren Mitbürger sorgen, um sicher zu stellen, daß alle alten Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage sind, sich selbst zu versorgen, angemessen versorgt werden können. Ferner bedarf es einer Reform des Erziehungssystems, so daß die Schulen nicht länger Orte der reinen Wissensvermittlung sind. Der Charakterbildung der einzelnen Schüler sollte verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt werden, da zunehmend mehr Familien nicht länger in der Lage sind, dieser Aufgabe, bei immer weniger gemeinsamen Familienleben, nachzukommen.
Um die arbeitenden Frauen zu entlasten, ist die Einrichtung genügend gut geleiteter Kindertagesstätten und Pflegeheime zur Beaufsichtigung der Kinder und bettlägerigen Familienmitgliedern ebenfalls von großer Wichtigkeit. Wenigstens ein Sozialwissenschaftler schlug vor, daß die Regierung in Betracht ziehen könnte, ein Gesetz zu erlassen, welches den Frauen kürzere Arbeitszeiten und Arbeitswochen zugesteht, um ihnen die Doppelbelastung durch Arbeit und Familie zu erleichtern. Diese Überlegung basiert auf der Grundlage wirtschaftlicher Erwägungen: Da sich in der Republik China das durchschnittliche pro Kopf Jahreseinkommen der Bevölkerung 6 000 US$ nähert, sollte das Land alle nötigen Mittel besitzen, um seinen älteren Mitbewohnern die angemessene Unterstützung zu bieten, der jüngeren Generation eine ausgewogene Erziehung zu geben und den arbeitenden Frauen das Leben zu erleichtern. Sollte die Anpassung an die neuen Zustände in diesen wesentlichen Punkten gelingen, so würde dies nicht nur helfen, die besonderen Nachteile der Industrialisierung zu reduzieren, sondern auch eine allgemein harmonischere Gesellschaft fördern.
(Deutsch von Gesine Arnemann)